Montag, 14. April 2008

Ganz normal

Ich hatte das Gefühl, dass irgendetwas wahnsinnig falsch lief, allerdings wusste ich nicht, was es war. Es war nach Mitternacht, mein Nachbar verlief sich auf den Dielen seiner Wohnung, die Weinflasche war dreiviertel leer und ich schrieb den dritten Tag an feingesponnenen Briefen für ein republikweites Unternehmen. Mit seidener Wortwahl und unter Zuhilfenahme vorgefertigter Textblöcke, machte ich einer Reihe von Mitarbeitern klar, dass sie in Zukunft weniger Geld vorfinden, mehr arbeiten und dennoch glücklicher leben würden. Ihr Leben würde allein schon dadurch sich abheben von dem der anderen, dass sie in einem Unternehmen verbleiben würden. Deshalb gäbe es - hier holte ich fröstelnd meinen grünen Pullover - folgende Optionen. An der Stelle folgte ein durchkonstruiertes Organigramm, was klugerweise nichts besagte und dennoch den Eindruck vermittelte, irgendwo werde entschieden.
Bei all den Rastern war mir manchmal, als ob die Buchstaben sich auflösen und zu galaktischen Weltumseglern würden. So segelnd hatte ich mich das letzte Mal gefühlt im Bett mit einem, der längst aus meinem Leben gewichen war. Meine Erinnerung an Sex war irgendwo abgeblieben wie meine Elektrogitarre und die Strickmaschine meiner Mutter. Nach dem dritten Umzug hatte ich mich eher aus rationellen, denn ästhetischen Erwägungen zur neuen aristokratischen Übersichtlichkeit bekannt.
Ich hatte allen Kram einem Händler vermacht und lebte nunmehr in den Koordinaten Bett und Kiste. Ich habe einige Mailfreunde, die ihrerseits in New York, den Hackeschen Höfen und Cottbus vor der Kiste sitzen und an für sie ähnlich hirnverbrannten Dingen schaffen. Claudia konfiguriert ein System für den Ecommerce von Brillen. Lassy, hat ein lesbisches Magazin zu layouten, ich war mir indes sicher, dass sie ein Mann war oder zumindest einer sein wollte.
Ich hatte manchmal wiederum auch das Empfinden, dass es alles so gut und richtig war, dass ich ganz normal wie alle lebte. Mein Vermieter grüßte mich freundlich. Zu jedem Date mit meinem Auftraggeber wickelte ich mich in das dunkelgraue Kostüm einer deutsche Designerin und firmierte unter »aussagekräftig nichtssagend«. Von einer Freundin hatte ich den Trick, solche Termine auf die zweite Tageshälfte zu legen. Ich war an dem Punkt, wo ich vielleicht doch ein Internetangebot für Brillen wahrnehmen sollte. veröffentlicht im Freitag, 3.März 200
http://www.freitag.de/2000/10/00102003.htm

Späte Einsicht

Mein Freund Sokrates und ich hatten einst zusammen das Abitur in einem kleinstädtischen Gymnasium absolviert. Wir waren voller Träume, liebten Schiller und hassten Goethe. Ursache war keine einzige Zeile des Dichters, sondern unser Traum, wie wir einst zu leben planten: ein großes Haus mit größeren Fenstern, Glas und Licht überall, offen und transparent. Es gab damals ein beliebtes Lied, der Sänger tönte darin großherzig, dass er allen Menschen große Fenster wünsche, die Gardinen spärlich nur und dünn. Es war ziemlich pädagogisch, es ging um Einsicht und Aussicht, dann kam noch was von Vertrauen derer, die sich gegenüber wohnen. Auch das fanden wir Klasse und bezogen es logischerweise auf uns.
Aber zurück zu Goethe: zu unserer Schulzeit war es üblich, dass junge Menschen im Klassenverband nach Weimar fuhren. Wir trabten in Reihe durch Goethes Gartenhaus. Hier hätte - so rief die begeisterte Deutschlehrerin - der Gute gekocht, in den Messingtöpfen gerührt und auf dem Bette manch schöne Stunde verbracht. Er sei ein Mensch wie du und ich. Sie blickte Sokrates tief ins Auge: "Auch Sie können einmal etwas Schönes erreichen, etwas Großes schaffen, man muss nur wirklich wollen." Offenbar wollte sie auch etwas Großes, nämlich Sokrates. Ich lenkte den Blick meines Freundes auf eine der furchtbarsten Kleinbürgeranhängsel: die Gardinen. Und was für Gardinen! Sie waren nicht dünn und spärlich, sondern dick und überall. Der Feind war erkannt. Faust - da mussten wir nur lachen. Wie konnte jemand an den Schlaf der Welt rühren, wenn er klitzekleinbürgerliche Fenster hatte. Mit Gardinen! Wir schworen uns ewige Liebe, niemals Gardinen zu kaufen und Goethe ein Lebtag zu meiden. Bald darauf trennten wir uns.
Irgendwann hörte ich davon, dass jemand die Gartenlaube verdoppelt hatte. Es war mir unfasslich. Statt großer Fenster doppelt so viel kleine - zugemauerte dazu.
Kurz darauf sah ich gegen ein Uhr morgens, wenn die Sendeplaner nur noch denkende Singles ohne Sexualpartner vor der Kiste vermuten, eine Aufzeichnung aus Weimar. Ein gut aussehender Thüringer trug vor, was der Doppelbau des Gartenhauses provozieren wollte. Man solle seinen Wahrnehmungen nicht trauen, man solle forschen, was wirklich Tradition sei und was echt und was man sehe, sei nicht immer die Wahrheit. Namentlich die Gardinen seien erst in den Sechzigern aufgehängt worden, von DDR- Museumsverwaltern. Der Dichter selbst habe nie welche gekannt und das sei doch spannend, worauf man so reinfalle. Der gut aussehende Spezialist war eloquent, er war ein exzellenter Goethekenner: es war mein alter Schulfreund Sokrates. 2000

bloß nicht das noch...

Ich saß auf meinem Zaun und war an irgendeiner Stelle unbemerkt in eine mentale Schleife geraten. Wenn sich mir Mädchen näherten, wusste ich mich zu schützen, bei Hunden ebenfalls, das Wetter war sonnig und die Latten nicht allzu störend. Dann aber kam doch der Moment, wo ich ernsthaft erwägen musste, meinen Beobachterposten aufzugeben. Es war ein Donnerstag und eigentlich nichts zu befürchten, da kam sie um die Ecke und blieb stehen: direkt vor mir, so etwa zwei Meter, sie beobachtete mich und zuckte nicht mit einer Wimper, wie man so sagt. Ich rutschte ein wenig von Pfahl zu Pfahl, blieb aber völlig cool. Frauen, das wusste schon mein Großvater, wollen einen nur fangen, binden, ins Bett zerren, heiraten, was sonst. Die Sache mit den Kindern lass ich jetzt mal weg, denn eigentlich mag ich Kinder ganz gerne. Aber jedenfalls so oder ähnlich läuft das Ding ab und es endet mit Kleinwagen, türkisfarbener Schrankwand und verspiegeltem Schlafzimmer. Nicht mit mir! Sie aber stand noch immer da und ließ sich nicht beirren. Ich betrachtete mir die Sache genauer, die schwarzen Haare, die spitzbübischen Augen und konnte nur wenig finden, was mich störte, außer: dass sie eine Frau war. Ich rutschte von Pfahl zu Pfahl und drehte mich um, sprang in den Garten und ließ die Geschichte einen andern erleben.

Präludium einer Irritation

Das war es also.
Alles hatte ich mir denken können, dies aber übertraf jede Vorstellung.
Sicher hielt ich völlige Irritation für sinnvoll, glaubte das Unwägbare zu brauchen.

Unter all den Möglichkeiten hatte ich jene nicht bedacht.
Neben dem Krug mit Tee fand ich den alten Holzwürfel.
Gleichwohl ich ihn anfangs nicht erkannte, waren doch alle Seiten von meiner Tochter schwarz übermalt.
Ein für allemal waren die Ziffern ungültig und die Farbe nivellierte jeden Unterschied.
Wie sollte es je wieder möglich sein, Verschiedenheiten herzustellen.
In den Flächen waren leichte Vertiefungen zu spüren, die die ursprünglichen Ziffern bedeuteten. So ich den Würfel leicht in das Licht drehte, waren die Werte wohl zu erkennen.
Sollte ich mich nunmehr der Mühe unterziehen, jedes Mal den Betrachtungswinkel zu verändern?
Es würde das Spiel verzögern, mein Zeitempfinden beeinträchtigen.

Trotzdem probierte ich es für einen Monat, der mir endlos erschien.
Öffentlich gab ich nichts davon preis, wie sehr ich mich verändert hatte.
Trivialerweise begann ich dann dennoch, mit einem weißen Stift die Ziffern nachzutragen.
Es geschah folglich alles so wie immer und ich empfand ein Gefühl der Erleichterung.
Tatsächlich aber spürte ich bald tief in mir ein Gefühl der Entäuschung und des Schmerzes.

Langsam begriff ich, daß es einen inneren Zusammenhang gab.
Anfangs hatte ich tatsächlich geglaubt, es handle sich um eine lose Folge von Ereignissen.
Noch wollte ich nicht anerkennen, daß ich eine festen Schema folgte.
Gab es keine Chance, die Regeln zu durchbrechen?
So zum Beispiel.
Akrosticha konnte ich im Wörterbuch nicht finden.
Möglicherweise hatte ich an der falschen Stelle nachgeschaut.

Aschermittwoch freitags im August

Karla Klingbeil war meine wirklich beste Freundin. An einigen untrüglichen Zeichen hatte sich dies festgemacht: sie bewachte neidvoll meine Seele, kritisierte meine gefärbten Haare und hatte kurzerhand und natürlich heimlich eine Liaison mit einem meiner Geliebten angefangen. Seitdem hinterfragten die beiden meine Zahnschmerzen nach möglichen seelischen Ursachen, hinter denen sie sinnigerweise Liebeskummer vermuteten, sie waren zusammen wirklich gut drauf, das kann man nicht anders beschreiben. Ich freute mich heftig und überlegte gleichzeitig, wie ich mit der Erkenntnis, dass jede Andeutung ihr gegenüber mit zentnerschwer auf die Füße fiel, wohl zurechtkommen würde. Karlas Rigorosität, mit der sie die Welt um sich gestaltete und inszenierte, war in pikanterweise gepaart mit feinsinniger Zurückhaltung, was sie allen Menschen zum verständnisvollen Gesprächspartner machte und mir klar vor Augen führte, dass meine spöttische Offenheit der falsche Fahrplan war.
Genug lamentiert, sie hatte die besseren Karten, war jung, hatte Kraft und blonde Haare, womit alles umschrieben ist. Die Begegnung mit meinem früheren Freund Anton, den ich vor etwa zehn Jahren verließ, war noch mehr als zufällig, doch konnte ich dabei erstmals mit Aufmerksamkeit verfolgen, welch unverschämt charmanten Eindruck sie auch auf diesen nur an Elementarteilchen interessierten Menschen machte.
Mir kam eine Idee, deren Umsetzung mir vorerst schwierig schien, die dennoch bald darauf mein Leben völlig veränderte.
Anton hatte ein ganz passables Atelier, in dem er seinerzeit noch mitten in der Ostzone daran bastelte, eine Leiterplatte herzustellen. (Das lag zeitlich etwas nach jener Zeitspanne, als man mitten in Thüringen darunter noch eine Holzleiter für Kirschbäume verstand, war aber ein durchaus solides Projekt mit dem Anschein, den Nobelpreis in das kleine Land der Dichter zu bringen, die damals noch umjubelt und heimlich gelesen wurden.) Anton war indessen nunmehr bei einem zweifelhaften Forschungsinstitut beschäftigt, hatte sein gutes Einkommen und wenig Aufgaben, dafür aber das gute Gefühl, auf der Seite der Gewinner zu stehen. Wir hatten beide in einem zweifelhaften Club - begleitet von zeitgemäßem Technosound - "metropolis" konsumiert und ich hatte ihm erklärt, was ich in etwa beabsichtigte. Er sollte in seinen Apparaturen eine Zweitausgabe der Klingbeil anfertigen, deren ethisches Gerüst vielleicht dem von Faustens Gretchen entspräche und diese Gestalt wäre dann die passable Dopplung, damit mich der Verrat der Freundin nicht allzu sehr schmerzte. Die originale Karla, die ja nun mitnichten jenes ehrliche Gemüt war, dessen mensch in diesen wirren Zeiten bedarf, um seine im Alltagsleben erlittenen Schürfungen zu kompensieren, diese Karla sollte ruhig bei sonst wem bleiben, ich selbst brauchte eine weibliche Person zum Zuhören und ohne die permanente Furcht vor dem Verrat.
Anton war in seinem Job wirklich unterfordert, denn ohne zu Zögern machte er sich an die Aufgabe und schon nach einer Woche hatte er einen Generator entwickelt, der moralische und andererseits unmoralische Sentenzen und Individualitätsstrukturen produzierte. Ich war begeistert. Die Konstruktion einer identischen Puppe scheiterte vorerst, aber die Verfeinerung des Instrumentariums von edler Anmut einerseits und zynischen Statements andererseits beschäftigte ihn übermäßig. Von einem Besuch an der Oder, wo er ein kleines Landhaus gemietet hatte, kehrte er überschwänglich freudvoll zurück und er lud mich am Telefon für den nächsten Abend ein. Ich konnte es kaum erwarten. Wir rannten über die Stufen in das Labor. Anton riss sich im Eintreten ein Loch in die beigefarbene Jacke und ein gewisses Glitzern in den Augen verriet mir, dass er die Tage nicht mit untätigem Rumsitzen mit Blick auf das ewig gleiche Wasser und entsprechendem Gesülze über Ruhe und Schönheit der Uferlinie verbracht hatte. Ich war ein wenig durstig und nahm mir rasch einen Schluck aus der Wasserflasche, dann wendete ich meine volle Aufmerksamkeit dem Meister zu. (Ich war mir recht sicher, dass es sich keineswegs um eine völlig neue Idee und ein originäres Werk handelte und bitte geneigte Leser davon Abstand zu nehmen, mich durch entsprechende Proteste darauf aufmerksam zu machen. Natürlich war mir vollständig klar, dass diese Lösung andernorts längst schon existierte und angewendet wurde.) Er rannte noch kurz ins Nebenzimmer, dann begann die Herstellung. Trotz der ganzen Armaturen sah alles recht unkompliziert aus und dann ergoss sich in je zwei Gläsern durch Kondensation eine durchsichtige Flüssigkeit. Ich hatte zu dem Zeitpunkt bereits eine leichte Ahnung, dass ich selbst meinen Schluck aus der Flasche voreilig getan hatte und es sich womöglich um eine Abfüllung handelte. Sofort schilderte mir Anton, dass diese Kleinstmenge nur eine Demonstration sei, in den beiden Flaschen dort - und mir wurde leicht zittrig - sei ein großer Vorrat und der sei schon ausprobiert. Wie Recht er hatte.
Ich muss noch hinzufügen, dass aus der Konstruktion einer zweiten Karla bis heute nichts wurde, dass Anton selbst die eine Flasche mit der Sorte "edel, hilfreich und gut" ausgetrunken hat und seit einigen Wochen in U-Haft sitzt. Er hatte etwa 300 Kinder von der Straße ins Hotel Kempinski eingeladen und die Chose nicht bezahlt. Da er meinen zunehmenden Zynismus nicht mehr ertrug, hatte er bereits vorher jeden Kontakt zu mir abgebrochen.
Ich bin mir nunmehr bei diesen Notizen gar nicht sicher, ob meine Wahrnehmung von Karla überhaupt korrekt ist, schließlich habe ich sie seitdem nicht mehr getroffen und auch sonst meide ich die Menschen erfolgreich, was in dieser Stadt nicht weiter auffällt. Ich habe mich dennoch zu diesem Bericht gezwungen, da ich mir mancherlei Dinge zunehmend weniger erklären kann und diese Geschichte in wenigen Wochen so zu notieren nicht mehr möglich wäre. Im Übrigen scheint die Herstellung der Flüssigkeit "cool und verbittert" so kompliziert nicht zu sein, denn irgendeine Firma muss sie massenhaft vertreiben. Für entsprechende Forschungsprojekte bezüglich Spätfolgen stehe ich zur Verfügung.

Kanalisation

Nur weil ein kleiner Junge mich nach der Uhrzeit fragte, weiß ich, dass es gegen zehn gewesen sein muss. Eine Woche mit hochsommerlichen Temperaturen hatte dem April zu Blütenpracht und häufiger Debatte in den Medien verholfen. So etwas ist nützlich, wenn am Ende des Jahres in den Silvesterbetrachtungen abgerechnet wird. Ich stand auf einer jener Brücken, die den Kanal mitten in der Stadt überqueren halfen und beugte mich über das Metallgeländer. Links war der Weg vor Jahren erneuert worden, auf der anderen Seite aber wurde nun schon seit Wochen gebaut, eine hölzerne Umrandung für den feinen, leicht rötlichen Kies, der am gestrigen Tag offenbar verteilt worden war. Wie ein lachsrotes Band zog sich nunmehr der Uferweg entlang unter den voll erblühten Kastanienbäumen. Nichts konnte diese Schnur unterbrechen, denn schließlich waren noch immer mannshohe Zäune aufgestellt, die diesen Teil absperrten und alle Wanderer auf die linke Seite verwiesen. Die innere Harmonie dieses Bauwerks zog meinen Blick an und ich bemerkte erst nach einigen Minuten, dass sich ein Saxophonspieler mitten auf dem Kiesweg befand und zu spielen begann. Es war mir völlig rätselhaft, woher er gekommen sein mochte. Eine getragene Melodie erfüllte die Luft und ich verharrte, um die wenigen Menschen auf der linken Seite zu beobachten, wie diese wohl damit umzugehen vermochten. Es schien keiner in seinen Schritten einzuhalten, obwohl der Ton überall gut zu hören sein musste. Ein kleines Mädchen zeigte mit dem Finger auf die andere Seite, wurde jedoch von ihrer Mutter weitergezogen. Allein meine Fußspitze kickte im Rhythmus gegen das Geländer. Mal konnte ich dem Tempo folgen, mal kam ich ein wenig aus dem Takt. Ich hatte mich offenbar viel zu stark auf meine eigene Rolle in dem Stück konzentriert, dass ich überhaupt nicht hatte verfolgen können, wie es geschah. Rückblickend nehme ich an, dass der Musikant infolge einer Irritation, deren Ursache nicht nachvollziehbar ist, einfach mit dem Rücken zum Kanal stehend nach hinten trat. Das Geräusch seines Einschlagens ins Wasser war mir aus Filmen geläufig. Da er nicht wieder auftauchte, begann ich nach einigen Sekunden zuerst zu der Absperrung zu laufen, dann sah ich das Hilflose meines Unterfangens ein, da ich kein sicherer Schwimmer bin. Auch war ich mir bereits in diesem Moment absoluter Stille gar nicht mehr so sicher, ob es je einen Saxophonspieler gegeben hatte. Trotzdem fühlte ich mich verpflichtet, von der nahegelegenen Telefonzelle aus die Polizei zu benachrichtigen. Ich schilderte ihnen meine Beobachtungen präzise. Kurz vor dem Ereignis hatte ein kleiner Junge mich nach der Uhrzeit gefragt, so dass ich nun genau wusste, dass es gegen zehn geschah.

Glück gehabt...

An dem Platz für WÜNSCHE hatte ich REGEN eingetragen.
Der Sommer über der Stadt hatte meine Seele ausgetrocknet, heiß und unerträglich lag er über den Straßen, ob ohne Schatten oder mit, was machte das für einen Unterschied. So hatte ich mir also Regen gewünscht und ihn bekommen.
(Das unterschied den Juli deutlich von der ersten Hälfte des Jahres, das Wünschen ließ da noch zu wünschen übrig und ich zweifelte, ob ich die richtigen Formulare besaß.)
Der Regen kam prompt, er war etwas stärker, als ich erwartet hatte, kam etwas früher, als dass ich mich hätte schützen können, und auch insgesamt war alles nicht ganz genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte, aber fast!
Mein Untermieter begann sofort Klavier zu spielen, ich räumte meinen Tisch auf und die Katze suchte sich einen neuen Platz. Ich begann einige Gedanken zu entwerfen, ließ das Telefon einfach klingeln und stieg aufs Dach. Der Blick über die regennasse Stadt war von ausgesuchter Delikatesse, die Dächer mit Hochglanzfolie überzogen und die Pflastersteine funkelten. Die Kirchturmspitze ragte empor wie der Mast des Schiffes, denn über kurz oder lang würden sie aus ihren Häusern kriechen und eine Arche suchen, der Wasserpegel stieg langsam aber stetig und ich hatte mir vorsorglich ein wenig Brot und eine Tüte Kirschen mitgebracht.
Ich spuckte die Kerne frei ins Land und die Katze murrte, wenn sie Opfer einer solchen Aktion wurde. In der Fleischergasse kamen die ersten Menschen aus den Häusern gerannt, das war logisch, die Baulichkeiten waren mir bekannt. Merkwürdigerweise war in den umliegenden Straßen des Viertels nichts dergleichen zu sehen.
Es dauerte etwa eine Stunde, die ich aufmerksamen Betrachtungen widmete, danach stand die Stadt unter Wasser. Nach einer weiteren Stunde, als auch unser vierter Stock verschwand, wurden die Hubschrauberpiloten auf mich aufmerksam.
Ganz offenbar war es umsichtig gewesen, den grünen Hut zu wählen.
Nun weiß ich selbst, dass man es mit dem Wünschen nicht übertreiben darf, daß man nicht zu selbstsicher sein darf und so weiter, wie sagte meine Großmutter immer: WER HOCH STEIGT, WIRD TIEF FALLEN, ETC.
Aber beruhigend war es schon, sich mal wieder was gewünscht zu haben....

Fehlkonstruktion

Der Bach floß außerordentlich zäh, irgendwo in der Konstruktion war ein Fehler verborgen. Ich hatte inzwischen etwa fünf Monate auf der Insel verbracht und die Wasserversorgung als Problem immer vor mir hergeschoben. Später hatte ich eine Möglichkeit gefunden, besonders geschickt war sie nicht. Da niemand bei mir war, fehlte mir ein fachlicher Rat, das war mir beim Bau der Hütte schon auf die Füße gefallen. Aber es gab hier weit und breit keinen Menschen, das hatte ich schon nach fünf Tagen herausbekommen. Ich war auf dieser Insel die Einzige und der Einzige. Glücklicherweise war mein Hund bei mir, der in mancherlei Dingen hilfreich war, auch sprach ich abends den Tag mit ihm durch, nur was technische Fragen betraf, da konnte er mir natürlich wenig helfen. Interessanterweise bestätigte sich meine These, daß verschüttete Fähigkeiten bei Notwendigkeit zum Alleinleben alsbald zum Vorschein kamen. Jeder Mensch ließ bestimmte Sachen während einer Beziehung verkommen bis zum völligen Vergessen. Damals hatte Anton schließlich das Bohren aller Löcher übernommen, was auch an mir nicht spurlos vorüberging. Seit ich auf der Insel war, kultivierte ich nun wieder entsprechende Seiten und hatte manchen schönen Erfolg vorzuweisen. Hier bei der Wasserversorgung scheiterte ich jedoch ein erstes Mal, vielleicht war ich auch zu streng mit mir selbst und hätte die Tatsache, daß immerhin etwas Wasser floß, durchaus zum Erfolg stilisieren können. Ich war jedoch eher deprimiert und bemerkte ein erstes Mal das Fehlen einer kompetenten Person.
Das Problem beschäftigte mich noch einige Zeit, dann vergaß ich es
fast bis zu jenem Tag, als sich in der Ferne ein Schiff zeigte, oder war es ein Boot? Jedenfalls kam es überraschend schnell näher und bald schon merkte ich, daß es zielgerichtet auf die Insel zusteuerte.
Ich rannte zurück, holte das Fernglas und erschrak: ein Mann saß in dem Boot (welches durchaus ein Schiff sein konnte), er hielt Kurs auf meinen Platz.
Ich war gespalten zwischen dem Wunsch, durch fachmännischen Rat endlich die Wasserfrage zu lösen und andererseits fühlte ich mich in unredlicher Weise bedrängt. Ich hatte niemand gebeten, niemand gerufen und war nicht bereit, meine Freiheit gegen ein allseits bekanntes Beziehungsstück zwischen Sex und Streit einzutauschen.
Warum wohl war ich mit dem Notwendigsten von dem Reisedampfer gesprungen, der Anton und mich nebst hunderten Mittelstandsbürgern nach Afrika bringen sollte, warum hatte ich auf Geldkarte und Katalog, nicht zuletzt auf meine schöne Stelle in einem sozialpsycholgischen Projekt verzichtet. Ich konnte mir das Ganze doch nicht einfach kaputt machen lassen durch einen solchen Eindringling, der mich schon jetzt aus dieser Entfernung beschäftigte, wie er mich später beschäftigen würde, schlaflose Nächte, Warten, mißverstandene Blicke... nein, da war ich mir ganz sicher: nie mehr Cremes mit Collagen, ich wollte essen, solange es mir Spaß macht, ich spannte die Sehne und verfolgte den Pfeil, bis er den Ruderer mitten ins Herz traf. Ich brauchte gewiß bald neue Pfeile, denn schließlich war das sicher nicht der letzte Versuch. Die Sache mit dem Wasser würde ich nochmals überarbeiten müssen

Februar

Der Wagen fuhr durch die Wälder, die im Februar noch ohne Grün waren, es schien, als ob an diesem Tag kein Mensch auf der Landstraße war und ich hatte beschlossen, zügig zu fahren. Ich hatte die ersten Dörfer hinter mich gebracht, als ein von weitem sichtbares Bündel auf der Straße lag. Anfangs wollte ich ganz aus Reflex ausweichen, da auch die Gegenfahrbahn leer war, doch dann hatte ich das Gefühl, als ob es sich bewege. Ein Bericht über die Tatsache, dass jüngst eine Frau auf der Straße verblutete, weil alle Angst vor Aids hatten, ließ mich anhalten. Die Hand in der Tasche hatte mein Taschenmesser fest umschlossen, was mir zwar eher eine Zerstörung meiner Jacke eingebracht hätte, aber der Gedanke, nicht völlig wehrlos zu sein, beruhigte ganz ungemein.
Ich hatte die Wagentür nicht geschlossen, als ich mich dem Bündel näherte. Für einen Moment erwischte ich mich bei der Vorstellung, nun müssten bärtige Männer aus dem Dickicht brechen und den Wagen in Besitz nehmen. Nicht mal die Geldkarte hatte ich bei mir, obwohl man gerade seine Wertsachen getrennt aufbewahren sollte...Im Näherkommen erwies es sich als ein Haufen undefinierbarer Farbe und auch über die Größe lässt sich rückblickend nur spekulieren. Ich hatte ein Gefühl von Wärme, was angesichts der winterlichen Temperaturen überraschend war, auch erinnere ich mich sehr genau, dass mir in diesem Moment für wenige Sekunden so etwas wie Meeresrauschen und das Stampfen von Pferdehufen im Ohr war. Rückblickend muss das als völlig abwegig gelten. Da es sich bewegte, konnte ich unmöglich meine Wegstrecke so fortsetzen. Ich zerrte meine Handschuhe heraus und versuchte es aufzuheben.
Fast überraschenderweise ging das höchst unkompliziert, aber meine Erfahrung hätte mir an der Stelle schon sagen müssen, dass dies immer nur der Anfang war, immer ging es am Anfang schnell und unkompliziert. Ich fragte, ob ich es in den Wald legen sollte, worauf keine zustimmende Antwort kam, so dass mir nichts anderes übrig blieb, als es vorsichtig in den Wagen zu tragen. Der alte VW- Bus war mit allerlei Kram bepackt, und ich musste erst Platz schaffen. Als ich es vorsichtig neben den Farbeimern und der Plane für die Scheune abgesetzt hatte, schlug ich die Tür hinten zu und setzte mich mit zwiespältigen Gefühlen ans Steuer. Inzwischen waren etwa drei Autos vorbeigekommen, die alle ebenso zügig wie ich fuhren und dem Vorfall keine Bedeutung beimaßen. Nach wenigen Minuten Fahrzeit überlegte ich, was zu tun sei. Noch verhielt es sich ruhig, aber all das Kommende war ja klar zu erkennen, Ärger, nichts als Ärger. Ich hätte einen anderen Tag nehmen sollen, warum nicht gestern, als das Wetter besser war. Ein schräger Blick nach hinten und ich musste mir eingestehen, ich wusste gar nicht recht, was ich da eingeladen hatte. Schon in der nächsten Kleinstadt erwog ich, es an einer zentralen Stelle abzusetzen. Es machte keine Anstalten, dergleichen akzeptieren zu wollen, gab sich selbst aber verschwiegen und ich konnte nichts über seine Absichten erfahren. Fast schien es sich vor mir zu fürchten, denn es kauerte in der hintersten Wagenecke und so begann ich, Geschichten zu erzählen. Es zeigte eigentlich keine Regung, erst allmählich kroch es näher heran zu mir und horchte interessiert. Da kein weiteres Detail zu sehen war, es war einfach ÜBERHAUPT nichts zu sehen, beschloss ich, daß es außer fühlen offenbar auch hören konnte. Wenigstens was. Die Geschichte von dem Engel Zafir gefiel ihm so gut, dass es deutlich seine Form veränderte. Ich probierte an einem Märchen, wie es auf Untiere reagierte, aber das war die falsche Strategie. In den Tiefen des Handschuhfachs, was eigentlich mehr ein Kassettenfach war, hatte ich mittelalterliche Musik gefunden. In der Nähe von Seelow musste ich kurz anhalten, um in einem Gasthof die Toilette aufzusuchen. Ich ließ den Bus offen.
Als ich wiederkam und vorsichtshalber eine Tasse Kaffee bei mir führte, war der Wagen leer, abgesehen von dem Kram, den ich oben schon erwähnte. Die Tüte Erdnüsse fehlte, ansonsten war alles da. Ich hatte es eilig und wartete einige Minuten, dann gab ich es auf und fuhr weiter, nicht ohne ein Gefühl der Erleichterung, gemischt mit einem leichten Schmerz.
Hatte ich heute Morgen noch nichts von seiner Existenz gewusst und war sie auch mehr als zweifelhaft, so reichte eine bloße Begegnung, dass bloße Wissen darum, dass es etwas gibt, schon aus, damit ich eine leichte Leere verspürte. In Kienitz angekommen lud ich die Farbkübel aus und begann noch am selben Abend, den Vorbau unter der Scheune zu streichen. Ab und an, wenn ich ein Geräusch hörte, hatte ich für Sekunden die absurde Vorstellung, es könne aus plötzlich auftauchen und ich hätte vielleicht noch eine Chance....

EPISODE

Daß er am Kreuz nicht mehr lange leben würde,
hätten sie sich denken können.
Wenn sie hätten denken wollen.
Aber sie wollten nur frei sein von eigener Schuld und daß ein Zeichen käme, daß es IHN gibt.
Mir fehlten gute Argumente und ich hatte Angst vor der Masse.
Ich hätte mir schon gewünscht, über dieses oder jenes noch mit ihm zu reden, wie sollte ich leben ohne dieses Gefühl, daß er an mich dachte, aber dann fehlte mir doch die Kraft, laut aufzuschreien.
Vielleicht hätte ich zu anderen Zeiten Freunde gefunden, die allem Einhalt bieten könnten, so aber nein, ich hatte einfach keine andere Möglichkeit.
Ich schaute zu, da selbst der Rückzug aus der Menge mich verraten hätte.
Schließlich: er hatte mich mehr als dreimal verleugnet,
daran dachte schließlich auch keiner mehr

1995

August an der Oder

Endlich wissen, was es heißt: Da wächst Gras drüber.

Ein Jahr lang mußt du warten,
sagte die Fee, bis zu dieser Sommernacht,
dann aber wird keiner mehr die Wunde sehen.

Als ob es nie einen Schmerz gegeben hätte, auch der Würfel ist dann wieder da:
trau dich und du würfelst die Sechs,
einmal zweimal, dreimal,

auch gewinnen will gelernt sein,
es wird alles so sein,
wie du es dir erträumt,
keine andere Möglichkeit.

Aber ob du dir das gewünscht hast....

...ein letztes Mal davon gekommen

Unsere Bekanntschaft konnte man selbst bei gutem Willen nur als flüchtig bezeichnen, dennoch hatte ich guten Grund zu der Annahme, daß Günther mich mochte. Diese Tatsache war mir sehr schmeichelhaft erschienen und ich hatte leicht und wie die Gewinnerin eines allzu gut bekannten Spiels in mich hineingelächelt. Zu meiner eigenen Überraschung hielt dieses Empfinden nur wenige Minuten an. Dann schien mir der Fakt an sich ausreichend. Ich fühlte nun eigentlich gar kein Interesse mehr an ihm und wandte mich anderen Gästen des Banketts zu.
Desungeachtet führte uns wenige Tage nach dieser Begegnung ein gemeinsamer Auftrag für einen Klienten zusammen und ich hatte nichts gegen Günthers Vorschlag einzuwenden, ihn in seinem Appartment zu besuchen. Im Fahrstuhl überprüfte ich sorgfältig mein make up, denn wenn ich auch nicht im mindesten beabsichtigte, ihn zu meinem Geliebten zu machen oder ihm irgendwelche Rechte anderer Art einzuräumen, wollte ich unsere gemeinsame Arbeit auf einem festen Fundament von Verständnis und Freundschaft begründen. Ich war furchtlos gegenüber allen Eventualitäten. Würde er vor mir auf die Knie fallen und mir seine Liebe gestehen, würde mich dies nicht überraschen und ich müßte nur in schlichter Weise eine lässige Ablenkung vom Thema finden, damit die Peinlichkeit eines solchen unerwiderten Auftritts von Gefühlen nicht ein für allemal das Ende jeder Zusammenarbeit bedeutete.
Günther ist, das muß ich an dieser Stelle hinzufügen, in seinem Job ein gefragter Fachmann, der durch unkonventionelle Formen des Herangehens tradierten Geistern ein Dorn im Auge ist. Für die Kunden stellte dies einen unschätzbaren Vorteil dar und ich wollte mir um nichts in der Welt die Chance nehmen lassen, an seiner Seite einige wichtige Geschäftspartner und Erfahrungen zu nutzen. Für die eher vulgäre Variante, daß er mich womöglich schlichtweg vergewaltigen würde befangen in dem Irrtum, ich sei fasziniert von ihm als Mann dachte ich noch keinerlei Handlungsstrategie voraus. Vor der Tür strich ich kurz über den neuen Leinenrock, (dunkelgrün, die von Sommerzeitschriften im Juli für den Herbst gepredigte Modefarbe) und klingelte.
Als ich eintrat, glaubte ich in seinem Gesicht deutlich Freude wahrnehmen zu können. Er bat mich in seinen Arbeitsraum, der von fast unheimlicher Ordnung geprägt war. Automatisch hatte ich mir angesichts seiner Arbeitsweise, die als phantasievoll und spontan gepriesen wurde, seine Gemächer nur als farbige und leicht chaotische Ansammlung, voll von Bildern, Büchern und Zeichen von Reisen und Begegnungen vorstellen könen. Nun war ich angesichts der absolut weißen Wände, dem völligen Fehlen jeglicher Pflanzen und der Leere auf seinem Schreibtisch verunsichert . Ich bastelte für mich an der Erklärung, dies könne sehr wohl das Vorzeigezimmer für Gäste sein, vielleicht war nebenan ein Raum, der all das barg und vor den Blicken der Fremden schützte. Aber war ich eine Fremde? Meine mir selbst auferlegte Zurückhaltung mußte ich wohl aufgeben, wenn ich die so sichtbare Distanz aufbrechen wollte und so nahm ich den angebotenen Platz auf dem grauen Sessel gar nicht an und ging leicht schlendernd zum Fenster. Der Blick auf die Straße war trist und ich wollte nicht lügen, aber was um Gottes Willen sollte ich ihm sagen, nichts war da, was dem Blick Halt und Anlaß für eine Bemerkung geboten hätte.
Wenigstens ein schwarzer Stift lag auf dem staublosen Tisch, dessen Glasplatte vor wenigen Minuten abgewischt sein mußte. Hatte ich mich getäuscht, war der kreative und faszinierende Mann ein Langweiler erster Ordnung oder war all dies eine Inszenierung, eine Prüfung, die ich unmöglich bestehen konnte?
Konnte nicht jeden Moment der Boden unter meinen Füßen sich senken und wer von meinen Freunden wußte überhaupt, daß ich hier in der Lindenallee 33 war? Als ich mich schließlich setzte, lehnte Günther leicht an dem Schreibtisch und nahm seinen Stift in die Hand. "Ein schöner Stift" sagte ich in Ermangelung anderer Einstiegsmöglichkeiten für das Gespräch und schon zog er geräuschlos die Schublade auf. "Du kannst einen haben, ich schenke ihn Dir." Er entnahm einen weiteren, ebensolchen lackschwarzen Federhalter dem Fach und reichte ihn mir. Mich durchzuckte die Ahnung, nun werde ich meine Haut ritzen müssen und mit Blut einen Vertrag unterschreiben, der mich für immer in diesem furchtbar grauen Raum gefangenhält. Etwas zu rasch antwortete ich: "Nein danke, ich habe selbst einen Stift" und holte zum Beweis meinen Kugelschreiber hervor, den mir vor einer Woche ein Freund geschenkt hatte. Dieser Stift aus Plastik war fast völlig das Gegenteil von Günthers filigranen Angebot, dick und fast unhandlich, ein Werbegeschenk eines Jugendsenders und in meinen Lieblingsfarben rot und türkis. Ich saß wie festgewurzelt, als Günther diesen mir aus der Hand nahm, rasch zum Fenster ging und es öffnete.
"Der paßt nicht zu Dir. Du solltest sowieso nur schwarze Sachen tragen. Das paßt besser zu deinen blonden Haaren und gibt Dir die nötige Härte, die deiner Ausstrahlung noch fehlt." Er schloß das Fenster wieder und hatte ganz offenbar den Stift fallen lassen. Ich war versucht aufzuspringen, ihm an die Kehle oder auf die Straße, verwarf aber beides. Welch absurdes Schauspiel wurde hier gegeben und wie kam ich zu einer Besetzung, auf die ich offenbar falsch vorbereitet war. Mir war trocken im Mund, doch ich war froh, daß er nicht beabsichtigte, mir etwas anzubieten. Er stand am Fenster und erwartete augenscheinlich auch nicht, daß ich etwas zu seinem Tun sagte. Stattdessen fuhr er fort: "Du wirkst naiv, verspielt wie ein Kind und verletzbar durch alle und jeden. In deinem Alter ist das untragbar. Deine grünen Sachen sind viel zu grell, wir arbeiten weder im Wald noch für irgendeine Partei. Ich wünsche nicht, daß Du noch einmal derart bekleidet in meine Wohnung kommst. Unsere Ziele werden klar und offen vertreten, jeder Ausrutscher schadet der Sache. Daß Du Dich für uns entschieden hast, ist nur das Eine. Ich nehme an, daß Du die Konsequenzen kennst und nun auch bereit bist, deine äußere Erscheinung unserem Ziel unterzuordnen. Ich verlange keine Antwort von Dir, ich werde auch diesesmal auf eine Meldung verzichten. Es wird Dir nicht schwerfallen, Dich in einschlägigen Geschäften mit schwarzer Kleidung zu versorgen. Zum meinem tiefsten Bedauern ist diese Farbe auch von einer ganzen Reihe anderer Leute auserkoren, die unseren Zielen entgegenarbeiten. Dies wird nicht lange so bleiben. Über kurz oder lang wird es jedem verboten werden, unsre Farbe zu tragen, der nicht sein Bekenntnis zu uns abgelegt hat. Fühlst Du Dich nicht wohl, ist Dir schlecht? Um Gottes willen, dann geh nach Hause, wir können uns gern morgen treffen. Ich will nicht, daß Du mir den Teppich vollkotzt!" Mir war während seiner Rede sichtbar immer übler geworden und ich hatte für einen kurzen Moment den Gedanken, daß dies gar kein so schlechter Einfall wäre, diesen hellgrauen Fußbodenbelag einfach zu besudeln auf natürliche Weise. Ich erhob mich und sagte, daß dies wohl wirklich besser sei. Mit sorgenvollem Blick brachte er mich zum Lift und ich sah im Spiegel mein angstverzerrtes Gesicht. Erst als ich aus dem Haus gerannt und wieder an der Luft war, fühlte ich mich etwas besser. Gehetzt und zitternd lief ich zur nächsten Bank, auf der zwei Jungen saßen. Die Ironie des Schicksals bescherte mir eine kleinen Trost. Der größere von beiden zeigte dem andern meinen Stift, den er gerade gefunden hatte.
"Guck mal, da hatte einer nicht alle Tassen im Schrank, der kam vorhin direkt von oben gefallen, wie 'ne Rakete, und so schön bunt."

Bei mir

Bei mir soll alles leicht sein und du willst nichts erklären,
du willst selten hier sein und seltsam noch dazu.
Ganz ohne Worte soll ich dich verstehn und immer zuhören können.
Ich soll nie was verlangen - aber immer da sein, wenn du mich brauchst.
Bei mir willst Du bei Dir sein, niemand, der Dir Fragen stellt.
Mich willst du so, wie andre Frauen nicht sind,
ganz anders als die andern und doch endlich ganz normal.
Bei mir willst du sex pur und mal jemand, bei dem es nicht nur um das Eine geht.
Du willst niemand, der Dich drängt und Eine, die dich rausreißt, wenn du am Boden bist.
Eine Frau, mit der mann sich zeigen kann und die kein andrer je begehrt.
Wenn sie auf den Stufen steht, sollen die Leute den Atem anhalten,
aber Du willst immer genug Luft haben.
Ich bin die Frau, die Du Dir Dein Leben lang zusammengeträumt,
ein bissel lauter und ein bissel voller noch dazu,
ein bißchen zu gierig und ein bißchen zu schnell.... - aber fast.
Und ich versuch noch all die Wunder zu erfüllen,
bin auch noch so eitel und freu' mich -
bis ich endlich merke, in welcher Scheiße ich sitze.

Ausgeschlafen

Endlich hat der Aufschwung auch mich ereilt, kein Gerede mehr von einer möglichen Firma, ich selbst bin Teil der jungen und dynamischen Heerscharen, seit gestern steht ein lindgrüner Diesel mit Stern vor meiner Tür, der farblich mit dem Käfer meiner Freundin Karla harmoniert und neben dieser Kultkugel offeriert: Wir haben es geschafft.
Meine Idee war so schlagend wie ungewöhnlich und das hatte Joachim -Jens Steigerbühl, dessen Kurse: "Geradeaus auf der Leiter zum Erfolg" ich seit zwei Jahren instinktiv verfolgte, immer wieder als Baustein Nummer eins benannt. Ich selbst begreife nicht, warum so viele diese wichtige Grundregel einfach nicht beachteten!
Der zweite Punkt war "Beobachtung des Marktes" gewesen. Ich gebe zu, am Anfang hatte ich diesen Satz ganz einfach mißverstanden und ich war schwachsinnigerweise durch die Wochenmärkte mit ihrer reizvollen Mischung aus Brathähnchenständen und preiswerten Lederjäckchen im Stil der letzten sieben Jahre geschritten. Da mein damaliger Freund Brathähnchen über alles schätzte, war das mitnichten vertane Zeit gewesen. Aber bald wurde mir klar, daß die wundervoll eingängigen Sätze von Steigerbühl auf einem ganz anderen Level befestigt waren, er meinet DEN MARKT AN SICH, also das, was die Leute so mögen, vielleicht gar nicht brauchen, wofür sie aber desungeachtet hemmungslos Schmott rausrücken.
Die These nummer sieben, um ein wenig zu kürzen, gab den Hinweis, diesem Bedarf zur Not geschickterweise etwas nachzuhelfen, ggf. eine Not zu erzeugen. Ich selbst bewohne, das muß ich an der Stelle einflechten, eine preiswerte und formschöne Hinterhauswohnung in Mitte und befinde mich sozusagen mitten im sprudelnden Abendleben und verfolge die Szenegestalten, die sich heerscharenweise über die City ergießen. Es ist ein wirklich schönes Gefühl zu erleben, wie bigotte Sparkassenangestellte aus Minden in Nordrhein-Westphalen im Team anrücken und im Tacheles so richtig die Sau rauslassen, die sonst an ihrer Seele knabbert wie weiland dieser Vogel an der Leber von Pythagoras. Doch benennen wir das Problem: Unsere Berliner und Brandenburger in den Randzonen kommen im Gegensatz dazu nie zu solchem Kulturgenuß, warum?
Drei, vier Artikel erboster Berliner mit dem präzisen Titel: "Warum nicht wir?" - plaziert an zentraler Stelle in großformatigen Blättern reichten aus, um einen gewissen Bedarf zu schaffen. Weil der Weg rein und raus so unendlich groß ist und sie viel zu schlapp dazu, machte sich doch Tatsache keiner mehr auf den Weg zu den Kulturtempeln und das durfte nicht so bleiben. Hier nun griff ich ein und mietete eine rassige Baracke, in der ich Schlafplätze einrichtete, denen unserer japanischen Nachbarn nicht unähnlich und mit dem nötigen Komfort ausgestatte, als da wären: Dusch, TV und ein Bett! Die Sache funktionierte prächtig und ein kleines Team betreut nun die Kurzzeitschläfer und Schläferinnen, die sich nach dem Job von 17 bis Mitternacht in die Koje hauen und dann erfrischt auf die Straße und ins Nachtleben fallen. Inzwischen bis ich in Verhandlungen, einige Regierungsgebäude des Nachts als provisorischen Schlafplatz einzurichten, das Image eines Stundenhotels wird nur in Ausnahmefällen vermutet und die anfäglichen Argumente, so lange dauere eine Fahrt hinaus nach Lichterfelde oder Hennigsdorf ja nun auch nicht, konnte ich durch ein kleines Team auf der Straße entkräften. Die Jungs sind sporadisch unterwegs und helfen mit, den manchmal nur zögerlich auftretenden Stau zu beschleunigen, ein kleiner Unfall hier und da und schon sind wieder ein paar Kunden gewonnen, die auf diese Tortour gern verzichten und lieber bei uns pennen. In einigen ausgedienten Gepäckboxen kann man inzwischen seine Wechselklamotten unterbringen, und der neueste Einfall wird begeistert angenommen: "Morgenschlaf" meine Zweigstelle, bietet die Chance, früh um fünf zügig in die Stadt zu brausen, dann dort noch zwei Stündlein Schlaf abzufassen und mit der erwünschten Fröhlichkeit in den Job zu springen. Erfolg ist manchmal ganz einfach und selbst meine krittelnden Freunde, die mit ihrem sozialen Touch in ABM-Projekten rumhängen, sind mittlerweile freudvolle Nutzer meiner Einrichtung, natürlich zu Sonderpreisen, denn was ich immer am meisten haßte, waren diese total arroganten Neureichen, so will natürlich keiner von uns werden!

Ansichtssache

Ansichtssache
Normalerweise nehme ich nach Feierabend so ab 19 Uhr in Ruhe mein Abendbrot und einen durch Werbebeiträge unterbrochenen Serienkrimi zu mir. Gewöhnlich besucht mich kein Mensch um diese Zeit. Außer Maria, mit der mich eine flüchtige Affäre verbindet. Gestern Abend also war Maria wieder da und ich bin mir nicht einmal im klaren, aus welchem Grund ich ihr ein solches Sonderrecht zum Auskotzen einräume. Seit Tagen, so schilderte sie mir, befalle sie eine merkwürdige Traurigkeit. Sie blickte mir verständnissuchend in die Augen: "Als ob unausweichlich ein schwerer Mantel die Schultern bedeckt, ohne dass er sichtbar oder gar abzunehmen ist." Tatsächlich hatte sie noch immer ihren Wintermantel aus dem letzten Jahrhundert an, was bei den Temperaturen leicht die Grenzen des Wahnsinns tangierte... Ich riet ihr, zumindest den wirklichen Mantel erst einmal auszuziehen. Die Vorstellung, dass massives Schuhwerk mit meterdicken Sohlen auch als Schutz für die Seele "Sinn macht", war sowieso eine der irrigsten Abstrusitäten der jungen Frauen... "Heute ist mir wieder einmal aufgefallen, wie schlimm alles ist: du kannst an einer beliebigen Stelle in die Bahn steigen und eine oder mehrere Haltestellen fahren, das spielt keine Rolle, denn schon an der nächsten Station wirst du wildfremde Menschen treffen, gleich so, als ob es eine wildfremde Stadt wäre, fast scheint es überraschend, dass sie dieselbe Sprache sprechen."
Ich kaute an meinem Brötchen und bemerkte, dass ich zur Zeit immer Fahrrad fahre. "Aber Julius, Du kannst neben einem Menschen im Supermarkt stehen, man tauscht sich aus über den günstigen Kauf beim Trödelmarkt, erkundigt sich nach der Herkunft der Lederjacke und sieht sich nie wieder. Du wirst es nicht glauben, aber ich begegne manchen Leuten regelmäßig! Jeden Morgen fahren sie zur selben Zeit in der selben U-Bahn, ich kenn ihre Gebärden, ihr Lächeln, ihre Ermüdung, könnte Dir sagen, wann sie sich neue Schuhe kauften - doch hab ich nie im Leben mit ihnen gesprochen. Genauso möglich ist es, dass Du im Stau stehst, Dein Blick fällt auf jemand am Steuer nebenan und du würdest sonst was geben, um ihn wiederzusehen. Ist Dir das noch nie passiert?"
Ich nahm mir das nächste Brötchen und skizzierte ihr kurz, mit welch beispielloser Verachtung vierrädrige Mitbürger mir Platz auf der Straße einräumten, das war der reine Überlebenskampf. Und selbst unter gleichermaßen Ausgerüsteten konnte ich mir keinen noch so schmalen Dialog vorstellen, denn Welten trennen den Biker vom schnöden "Kaufhausradler", die anheimelnde Gleichheit der Undergroundfahrer gab es hier nicht, der Mensch ist allein, wenn er stirbt sowieso und vorher erst recht.
Maria blickte mich nebst Brötchen voller Verachtung an. "Aber es ist doch entsetzlich, Du wohnst in einem Hochhaus und womöglich triffst Du deinen Nachbarn ein oder zweimal im Jahr!"
Ich nahm mir eine Flasche Bier aus einem der fünf Kästen, die nun seit meinem Geburtstag ab und zu erleichtert wurden, und sah vor mich hin. "Dank seiner Außentoilette sehe ich unseren Nachbarn mindestens einmal die Woche, er ist fett, meist in Unterwäsche und wenn er besoffen ist, von einem schrecklichen Gefühl nach Nähe befallen. Dann gilt es die Tür fest zu schließen. Ansonsten solltest Du einfach eine Annonce in der zitty oder im Berliner Abendblatt aufgeben, je nach Stimmung und Zielgruppe, - suche den blonden Mann mit Zopf, der mich neulich im "Franz" so eng umschlungen hat, muss Dich wiedersehen, habe dein Portemonnaie.....- entscheidend ist, dass es nicht andersrum passiert!"
Maria's Blick schien leicht verbittert, aber das waren halt die Tatsachen und es hatte keinen Sinn rumzuheulen, sondern es galt, praktisch die Möglichkeiten zu benennen: "Das ist die Großstadtvariante, ansonsten gibt es noch die Chance, dich preisgünstig in eine der pilzartig aus der Geldnot der Beitrittsmenschen sprießenden Landkommunen einzukaufen, mit wenig Geld sind sie dabei, Schwein und Huhn inklusive, natürlich biologisch, zur Not auch abbaubar, was immer das bedeuten mag, dort sind dann nur wenige Menschen und du bist mit einer Liaison mit dem ortsansässigen Förster das Problem ein für allemal los. Er wird deinen südlichen Slang ebenso schätzen wie deinen extravaganten Kleidungsstil und über kurz oder lang werden die anfangs losen Dielen der Fußbodenheizung weichen und die Beziehungen lose befestigt werden. Zumindest für die kommenden fünf bis zehn Jahre Bautätigkeit bist Du den Schlamassel los. Eine Herde sehnsüchtiger Stadtflüchter ost und west wird Dich regelmäßig bewundern und Deine Selbstfindungskurse lassen sich gekoppelt an einen Workshop zu Brunnenbau gewiss prima verkaufen."
Wutentbrannt rannte Maria zum Fenster: "Du hörst mir einfach nicht zu. Du verstehst überhaupt nicht, was ich erzähle. Du meditierst vor Dich hin über die Welt und deine zynischen Statements hältst Du noch für die Realität. Ich rede von Einsamkeit und meine, dass mir niemand zuhört. Aber das ist ja nicht nur bei Dir so. Wen man auch trifft, jeder denkt laut vor und für sich hin, du brauchst mich gar nicht, das redest du mir nur ein. Warum bist du dann mit mir zusammen?"
Ich merkte, dass es grundsätzlich wurde und antwortete sanft: "Weil ich Dich mag."
(Warum musste sie um Gottes Willen nur immer so grundsätzlich werden, wenn ihr offenbar nur irgendwer den letzten Häkelpullover bei Esprit weggeschnappt hatte.)

Abwärts

Wenn sie die Augen schloß, rollte der Film jenes Abends in kurzen Sequenzen ab, immer wieder, nichts konnte die Erinnerung verdrängen. Sie saß in dem blauen Cafe und hatte den Platz am Fenster. Aus den Boxen grölte Tom und die blonden Girls an der Theke waren selbstbewußt wie immer, so, wie sie es nie sein würde.
Das letzte Glas Bier war schon zuviel gewesen, aber ganz ohne hielt sie keinen Abend mehr aus. Früher hatte ihr der Job nichts ausgemacht und jetzt mußte sie noch dankbar sein. Mit netten Worten für alle war sie durch die Gänge ihrer Abteilung geschritten. Das Leid der anderen, die in ihren weißen Särgen nur darauf warteten, daß der Tod sie wirklich ereile, konnte ihr nichts antun. Sie war jung, stark und gehörte zu einer anderen Welt. Seit einiger Zeit aber fragte sie sich manchmal, ob die Krankheit vielleicht ohne daß sie es merkte nicht auch an ihr längst fraß. Vielleicht war es gar keine richtige Krankheit, kein Virus, was wußten denn die Ärzte: in ihren fünf Minuten Visite werfen sie einen Blick auf die Krankenkarte, die schauten den Leuten nicht mal in die Augen, oder auf den Schreibtisch, was die so lesen.
Als ob es nicht wichtig wäre, was einer so liest, der diese beschissene Krankheit hat, der weiß, daß er nur noch eine Weile auf der Welt ist. Von denen war doch jeder eigentlich schon draußen, oder besser: drinnen, hier drinnen, bei ihr...
Sie hätte gehen müssen an dem Punkt, das wußte sie, aber wie so oft, half ihr dieses Wissen nichts. Was sie wohl für einen Eindruck machte, ein Glück, daß sie sich nicht selbst sehen konnte.
Und dann war er durch die Tür gekommen, die sie gewohnheitshalber im Blick hatte. Es schien ihr, als hätte sie ihn bereits irgendwo gesehen, in einem Film oder in einem ihrer Träume vielleicht.
Er ging zur Bar und fragte nach dem Telefon. Während er die Ziffern wählte und den Blick durch den Raum schweifen ließ, trafen seine Augen für eine Sekunde die ihren.
Dann sprach er irgendetwas auf den Anrufbeantworter und legte den Hörer auf. Im Gehen nickte er ihr unmerklich zu, vielleicht hatte sie es sich aber auch nur eingebildet.
Sie war an jenem Abends benebelt und gleichzeitig beschwingt nach Hause gegangen und verbrachte die darauffolgenden Tage mit dem festen Wunsch, ihm wiederzubegegenen. Wenn sie nunmehr das Cafe besuchte, kleidete sie sich sorgfältig.
Ihre Sehnsucht war groß und doch angenehm, sie machte sie stark und gab ihr ein wenig von der verlorenen Kraft wieder.
Dann sah sie eines Tages in dem miesesten aller Stadtblätter auf der dritten Seite sein Bild, ein kleines Paßfoto. Daneben stand: "In den gestrigen Morgenstunden wurde Philipp H. nach geglücktem Selbstmord am Fuße des Hochhauses Sonnenallee 2 aufgefunden."
Sie mußte sich erbrechen und konnte auch später das Wort Glück nicht mehr hören, ohne daß sie irgendetwas in ihrer jeweiligen Nähe zerschlug.

Gewöhnliche Liebeserklärung

Natürlich habe ich auf Dich gewartet, was hattest Du gedacht?
Daß alles Zufall ist?
Nichts geschieht ohne Grund.
Ich habe all die Zeit an dieser Ecke gestanden, meine Hände sind klamm von all den Wintern und mein Gesicht rot von all den Sommern, die Falten kommen vom Wind und daß ich Wurzeln geschlagen habe, war zu erwarten. Ich bin auch nicht mehr zu retten, das weiß ich.
Es gibt keine Gefühle außer jenen, die auf dem Absurden balancieren.

Setzt Dich zu mir und erzähl, wie es Dir in all der Zeit ergangen ist.
Warum bist Du wortlos vorbei im letzten Juni, als ich hier auf der Treppe saß, es war unwahrscheinlich heiß, und ich hatte diesselbe Jacke an wie allezeit. Hast Du mich nicht gesehen? Wer hat Dich zweifeln lassen, die jungen Frauen mit ihren hohen Hacken etwa, oder die Eine, die - blond und schlank - an jedem Abend auf mich einsprach? Ich konnte mich ihrer nicht erwehren, hast Du darin Zustimmung gesehen? Dachtest Du gar, ich könne irgendetwas für sie empfinden, was unser beider Bestimmung füreinander abträglich sein könnte?
Doch vielleicht hast Du mich gesehen und wolltest, daß wir uns erst jetzt begegnen? Du siehst anders aus als damals, dein Haar war länger, du bist selbstbewußter. Ich sehe die Blicke der anderen Männer, wenn du vorüberfährst. Was wissen sie von Dir: nichts- aber sie spüren genau, daß Dein Zauber nicht von dieser Welt ist. Am Anfang haben sie mich ausgelacht, sie machten sich über mich lustig, was ich nur schwer ertragen konnte. Dennoch bin ich die ganze Zeit hier geblieben. Manche Freunde gingen für immer, andere kamen wieder. Ihr Lachen verschwand mit der Zeit. Mir scheint, ihr Leben ist nicht übermäßig erfüllt von Freude.
Als die ersten Wurzeln sichtbar wurden, erschrak manch einer. Dennoch kann ich nicht klagen, sie haben mir in all der Zeit immer geholfen und mich versorgt.
Ich habe so gewartet, daß Du stehenbleibst und Zeit für mich hast. Du brauchst nichts sagen, ich weiß alles von Dir. Setz dich auf die Bank, die ich extra für Dich habe bauen lassen. Du kannst kommen und gehen nach Belieben. Mir reicht zu wissen, daß Du da bist. Du mußt nicht verfügbar sein, laß nur ab und zu ein Zeichen für mich kommen oder setz Dich zu mir an die Ecke. Ich werde Dir all die Geschichten erzählen, die man hier hört:

Montag, 7. April 2008

Zwischenrettung

Er fragte, ob ich ihm etwas Geld leihen könne. Sonst etwas angeekelt von jener Art ständiger U-Bahn-Anmache schien irgend etwas mich zu zwingen anzuhalten und in die Tasche zu schauen. Ich gab ihm in einem mir neuen Anflug von Großzügigkeit ein 5 Mark-Stück. Gerade war ich aus einer dieser tristen Boutiquen angesichts der kindischen Pullover dort geflohen. So fand ich, nun in gewisser Weise ja eine größere Geldausgabe vermieden zu haben. Dies verschafft das absurde Gefühl, etwas eingespart zu haben, infolgedessen war ich großzügig . Ich dachte auch nicht daran, daß ich eigentlich noch in ein Schuhgeschäft wollte.
Ich gab ihm die fünf Mark und wollte weitergehen.
Er schlug vor, daß wir doch jetzt zusammen einen Kaffee trinken sollten. Er würde mich einladen. Ich war so sprachlos, daß ich solche Milchkaffeerechnungen wie: zwei mal drei Mark sind sechs gar nicht in Erwägung zog. Nach wenigen Minuten hatten wir ein kleines, eher schäbiges Cafe gefunden, dessen frisch getünchte Wände von der Kärglichkeit des Mobiliars nicht abzulenken vermochten. Wir setzten uns an einen Tisch nahe dem Fenster und ich hatte nun keine Möglichkeit mehr, dem Blick auf mein Gegenüber auszuweichen. Mein starkes Interesse für Menschen, das ich auch nie verbarg, stand im Gegensatz zu einer gewissen Furcht, dem anderen in die Augen zu schauen, und ich hatte noch nicht herausgefunden, ob ich mehr mich oder meine jeweiligen Gesprächspartner schützen wollte.
Der dunkle Marmortisch war leer, weder Milchkännchen noch eine Karte boten den Händen Halt und ich überlegte, mit welcher Bestellung ich ihn provozieren müßte. Was bringt ihn überhaupt dazu, jemand einzuladen. Nachdem ich lange genug das Tischmuster analysiert hatte, wanderte mein Blick langsam nach oben zu jenem Gesicht, das NATÜRLICH nicht ohne Faszination war warum sonst wäre ich mitgekommen! Er trug ein kariertes Hemd und darüber einen braunen Pullover.
Die sandfarbenen schulterlangen Haare waren hinten zusammengebunden. Einen solchen Zopf, diese Insignie männlicher Extravaganz, sah ich bei einem Penner zum ersten Mal. Seine Lippen waren schmal und endeten in in jenen heruntergezogenen Falten, die der Zyniker nach Jahren nicht mehr loswird. Zwischen den Augenbrauen hatte sich eine tiefe Furche eingraben. Als ich in seine wasserblauen Augen sah, blieb mir die lässige Frage, wie oft er den Trick so abziehe, im Halse stecken. Ich hatte plötzlich das Gefühl, er wisse vielleicht mehr über mich als möglich war und ich mir je eingestehen könnte.
"Ja, das gehe ihm genauso." bestätigte er gerade irgendeinen Satz, den ich ganz offenbar von mir gegeben haben musste. Ich konnte mich an nichts erinnern und Nachfragen war schlecht möglich. Er trinke den Kaffe AUCH ohne Zucker! Ich hatte NICHTS dergleichen gesagt und griff in Absurderweise mit einer lächerlichen Geste nach dem Deckel der Zuckerdose - natürlich nahm ich nie Zucker in den Kaffee. Ich begann, meine ganz offensichtliche Zerstreutheit der Tatsache zuzuschreiben, dass ich mich nun seit Wochen mit so vielen offenen Entscheidungen herumquälte. Mein Körper reagierte mit einer gewissen Schwermut und mit Rückenschmerzen. Ich stand dem machtlos gegenüber. Ich hatte wirklich genug um die Ohren und einfach nicht die geringste Kraft, mich noch mit den Sorgen und Problemen dieses Penners rumzudrücken. Offenbar hatte er vor, mich auch noch als Zuhörer seiner Schreibereien zu nutzen, denn er holte aus dem neben ihm liegenden Wollmantel, den ich vorhin gar nicht wahrgenommen hatte, ein kleines Büchlein mit handschriftlichen Eintragungen hervor. Ich lehnte mich automatisch zurück auf meinem Stuhl. Natürlich würde ich zur Not auch zuhören. Das hätte ich mir denken können, dass er einfach mal jemand zum Quatschen brauchte! Nie im Traum wäre ich auf den Gedanken gekommen, ihn nach sich zu fragen, aber zur Not konnte ich den Schuhkauf wirklich noch um einen Tag hinausschieben. Ich wusste sowieso noch nicht, welche Schuhe ich gerne wollte.
Er schlug das Büchlein auf, schien sich an irgendetwas zu erinnern und schaute mich an: "Also, gehen wir sie der Reihe nach durch!" . Ich versuchte, ihn noch ein wenig lässiger aber ermunternd anzusehen und lehnte mich in meinem Stuhl weit zurück.
"1. Du weißt nicht, wer Du wirklich bist und was Du hier sollst auf dieser Welt. 2. Du kannst Dich nicht zwischen den drei Männern entscheiden, die Dich lieben. 3. Deine Rückenschmerzen... also das geht bei mir bis Punkt 24. welche Schuhe Du kaufen sollst. Ist das richtig?" Trotz einer gewissen Erstarrung, die mich fürchten ließ, mein Herz sei stehen geblieben, hatte ich die Kraft, mir die Spitze meines linken Schuhes unter dem Tisch derb in die rechte Wade zu pieken. Es schmerzte viehisch und ich verwarf den Gedanken, dass es sich unzweifelhaft nur um einen morgendlichen Traum handeln könne.
Da er mein fassungsloses Antlitz sah, wurde er stutzig: "Du bist ärgerlich, weil ich erst so spät komme?" Ich warf einen flüchtigen Blick auf die restlichen Menschen an den Tischen um uns, die alle mehr oder minder lethargisch ihre Wünsche in sich hineinschütteten. Keiner schien etwas zu bemerken. Mir wurde übel.
Als ich von der Toilette wiederkam, deren bauliche Gestaltung jeden Gedanken an Flucht vernichtete, saß er an derselben Stelle und blickte mich traurig und mitfühlend an. "Ich verstehe ja, daß Du ärgerlich bist. Aber wenn ich nicht völlig falsch informiert bin, dann hast Du ERST gestern Nacht um 23.45 DEN HERRN um Beistand gebeten. Es gibt da gewisse Dringlichkeitsstufen und Du bist NICHT in der ersten. Es gibt dort Leute, die sofort zum Strick greifen. Außerdem werden es immer mehr Fälle und die Zahl derer, die sich niemand mehr vorstellen können, von denen sie Hilfe erwarten können, ist auch immer größer geworden. Du schreibst! Solche Fälle sind nicht sehr dringlich. Meistens drohen solche Leute nur ein bisschen, aber haben dann bis ins Irrenhaus noch zu schreiben Und Du hast mit einer Flasche Wodka in der Hand gerufen, 'wenn mir nicht bald jemand hilft' Bald, hast Du gesagt. Ich hatte die Nacht noch einen schweren Fall auf dem Dach eines Hochhauses und konnte nicht weg. Wir sind doch noch im Limit und DA BIN ICH. Ich bin für Dich verantwortlich. Wir haben uns zwar schon oft gesehen, aber Schutzengel dürfen sich nur im äußersten Notfall zu erkennen geben." Während seiner Rede war mein Mund offen geblieben, was immer nicht sonderlich vorteilhaft geistvoll auf den Gegenüber wirkt. Ganz offensichtlich hatte die Möglichkeit, gewissermaßen MEINEN Engel zu treffen, ganz außerhalb meiner Vorstellungskraft gelegen. Unter solchen Umständen war es ganz unmöglich, weiter anderen Menschen gegenüber den Eindruck erwecken, dass ich Phantasie hätte, gar schreibe. Er hatte ja Recht, eigentlich hätte mir in der Situation letzte Nacht das Schreiben Halt sein müssen!Wir plauderten noch ungefähr zwei Stunden miteinander und besprachen dieses und jenes Problem. In vielen Punkten waren wir ganz ähnlicher Auffassung. Nach einem erfrischenden Glas Sekt bezahlte er für uns beide und wir verabredeten uns für den nächsten Tag 10 Uhr vor dem Schuhsalon. Dann gingen wir jeder an unsere Arbeit.

Sokrates

Mein Freund Sokrates und ich hatten einst zusammen das Abitur in einem kleinstädtischen Gymnasium absolviert. Wir waren voller Träume, liebten Schiller und hassten Goethe. Ursache war keine einzige Zeile des Dichters, sondern unser Traum, wie wir einst zu leben planten: ein großes Haus mit größeren Fenstern, Glas und Licht überall, offen und transparent. Es gab damals ein beliebtes Lied, der Sänger tönte darin großherzig, dass er allen Menschen große Fenster wünsche, die Gardinen spärlich nur und dünn. Es war ziemlich pädagogisch, es ging um Einsicht und Aussicht, dann kam noch was von Vertrauen derer, die sich gegenüber wohnen. Auch das fanden wir Klasse und bezogen es logischerweise auf uns.
Aber zurück zu Goethe: zu unserer Schulzeit war es üblich, dass junge Menschen im Klassenverband nach Weimar fuhren. Wir trabten in Reihe durch Goethes Gartenhaus. Hier hätte - so rief die begeisterte Deutschlehrerin - der Gute gekocht, in den Messingtöpfen gerührt und auf dem Bette manch schöne Stunde verbracht. Er sei ein Mensch wie du und ich. Sie blickte Sokrates tief ins Auge: "Auch Sie können einmal etwas Schönes erreichen, etwas Großes schaffen, man muss nur wirklich wollen." Offenbar wollte sie auch etwas Großes, nämlich Sokrates. Ich lenkte den Blick meines Freundes auf eine der furchtbarsten Kleinbürgeranhängsel: die Gardinen. Und was für Gardinen! Sie waren nicht dünn und spärlich, sondern dick und überall. Der Feind war erkannt. Faust - da mussten wir nur lachen. Wie konnte jemand an den Schlaf der Welt rühren, wenn er klitzekleinbürgerliche Fenster hatte. Mit Gardinen! Wir schworen uns ewige Liebe, niemals Gardinen zu kaufen und Goethe ein Lebtag zu meiden. Bald darauf trennten wir uns.
Irgendwann hörte ich davon, dass jemand die Gartenlaube verdoppelt hatte. Es war mir unfasslich. Statt großer Fenster doppelt so viel kleine - zugemauerte dazu.
Kurz darauf sah ich gegen ein Uhr morgens, wenn die Sendeplaner nur noch denkende Singles ohne Sexualpartner vor der Kiste vermuten, eine Aufzeichnung aus Weimar. Ein gut aussehender Thüringer trug vor, was der Doppelbau des Gartenhauses provozieren wollte. Man solle seinen Wahrnehmungen nicht trauen, man solle forschen, was wirklich Tradition sei und was echt und was man sehe, sei nicht immer die Wahrheit. Namentlich die Gardinen seien erst in den Sechzigern aufgehängt worden, von DDR- Museumsverwaltern. Der Dichter selbst habe nie welche gekannt und das sei doch spannend, worauf man so reinfalle. Der gut aussehende Spezialist war eloquent, er war ein exzellenter Goethekenner: es war mein alter Schulfreund Sokrates. 2000

Brauchtum

Ein oder zwei Sonnenblumen halten sich nicht an die Wachstumsgrenze.
Über die Unregelmäßigkeiten kann man mit der Sichel hinweggleiten.
Die Spitzen fallen ab und werden zertreten.
So läuft das hier, sagt der Bauer und grinst.

Sowas auch

Manchmal, wenn sie einfach nicht mehr konnte,
wenn die Musik in ihren Ohren dröhnend das Hirn zu sprengen drohte,
wenn das Maß der Zuneigung überlief,
wenn die Haut den ständigen Wechsel der Anspannung nicht mehr ertrug,
wenn er neben ihr keinen Schlaf finden konnte,
die Tage in unerklärlichem Tempo rasten und sie wieder nur einen Bruchteil
der Themen besprochen hatten,
wenn die Schreie der Lust für die Nachbarn unerträglich wurden,
dann konnte sie manchmal nicht anders,
dann zwängte sie ihn in den Mantel,
schob ihn zur Tür und verlangte mit äußerstem Nachdruck,
er möge ENDLICH Zigaretten holen .

DURCH Dich

Alle Angst habe ich gegen
Buntpapier getauscht -
ein Riesenberg in tausend Farben.
Und wenn ich jeden Morgen
Flieger daraus baue,
kann ich zusehen,
wie sie zu den Wolken steigen
und langsam verschwinden.

wirklich

.....immer,
wenn mir jemand sagt,
er wolle nur mein Bestes,
ODER: er liebe mich halt und das sei doch das Wichtigste
ODER: ich solle das alles nicht so schwer nehmen,
ich werde mich auch schon noch daran gewöhnen.
Immer dann befällt mich dieses unerklärbare Gefühl,
etwas mir Wichtiges werde mir genommen und ich bin sehr,
sehr vorsichtig...
IMMER !

Fragestellung

Am äußersten Ende des Weges,
als keiner mehr wußte,
wie weit wir uns schon entfernt hatten,
als die Lichter längst verloschen waren
und unausweichlich die Kälte nach uns griff,
da fragten wir uns langsam,
wer wohl es war, der uns voranging.

Und als es immer kälter wurde,
da kam es - hörbar,
erst leise,
doch dann stärker,
dieses "Kreuzigt ihn!"

Keinem von uns wollte es nunmehr einfallen, warum wir all die Zeit hinterhergeschritten waren: gleichmäßig, geduldig und grundlos.

Startversuch

Es gab keine Geschichte,
nach knapp mal drei Wochen gab es keine Geschichte,
wer wollte so etwas verlangen !
Ich konnte mich nicht erinnern, wie wir uns begegneten,
wann wir uns getroffen- es gab eine Tasse Kaffee,
ein paar Telefonate und nichts mehr,
keine Geschenke, keine Vereinbarungen, nichts,
worauf man bauen konnte und was uns enttäuschen würde,
ich wusste nicht einmal Deine Telefonnummer und hatte erstmals versucht,
deinen Vornamen auszusprechen.
Das war anstrengend genug..

Lichtigkeiten

Das war ein seltsames Experiment:
wie er es ohne mühselige Arbeit schaffte,
daß alle die Lampen akzeptierten,
wie die meisten ohne größeren Protest hinnahmen,
daß es nunmehr nur noch dieses künstliche Licht geben würde -
in jeder Nacht UND an jedem Tag.
Und besonders merkwürdig war, daß so viele von uns so sehr Teil des Vorgangs wurden, daß sie bald schon keine Unterscheidung mehr machten.
Manche gaben an, gar selbst eines der Lichter zu sein.

Aufgabe

Da der Kampf so aussichtslos war,
ergab sich nach den Jahren endlich
jener schöne Augenblick, da wir uns annäherten.
Gleichermaßen achtsam und vorsichtig
hatte jeder den anderen verfolgt, ergriffen und umschlossen.
Nunmehr schien dem flüchtigen Beobachter,
dass dies die einzig denkbare Fügung
unseres merkwürdigen Schicksals sein konnte.

Dornröschen

Sie warnen ihn jeden Tag, er möge es nicht versuchen.
Tausende Geschichten
- nach denen er niemand gefragt oder gebeten,
über Tod und Verrat - gar von Mord ist die Rede,doch Genaues weiß man nicht.

Er möge es bloß nicht versuchen, die Dornenhecke zu durchdringen, die Prinzessin sei dumm und hässlich und habe- selbst wenn es ihm gelänge - die Zeit verschlafen.

Er aber nimmt täglich sein Telefon und spricht mit ihr,
plant das Leben,
die Rettung und den Sieg
vorsichtig, behutsam und still
aber jeden Tag ein bisschen.

F.

An manchen Tagen klappt es tatsächlich.
Ich kann - während ich auf Dich warte -
durch die Hochhäuser,
Stadtmauern und Autoschlangen hindurch suchend sehen,
bis ich Dich finde
- zwischen diesem und jenem Wagen -
die Finger unruhig klopfend,
die nächste Abfahrt noch Stunden entfernt,
und der Sendewahlknopf muß Dein Leid ertragen.

Ab und an funktioniert es:
ich rufe leise und Du lehnst Dich zurück.

Es kostet mich gar nicht allzu viel Kraft,
nur ein bißchen Einfühlung, ...aber man kann sich schließlich nicht um alle kümmern !

Meine Schuld

Zeit, die ich mir für dich nie nahm,
geht Hand in Hand mit Vorwürfen,
die ich dir nie gemacht,
und sie werfen Steine.

Liebe, von der ich nichts mehr weiß,
kniet in der Haustür, bis das brutale Schweigen
alle Nachbarn weckt.

Hoffnung, der ich nie eine Chance gab,
hat die Messer gezückt.

Sie zögern nicht mehr.

Sie werden mich kriegen,
noch bevor der Morgen graut
und du wirst mich nicht retten,
sondern zusehen aus der schützenden Entfernung
von mindestens dreihundert Kilometern.

Sonja

Sie war gestorben vor über einem Jahr,
einfach weg und tot und gar nichts mehr,
rein in die Erde und Sonne unten und oben.

Als nach über einem Jahr,
als ich da noch immer fast jeden Tag an sie dachte,
das war schon sehr seltsam.

Das Seltsamste aber war der Gedanke, dass es vielleicht eine der gemeinsten Lügen ist,
wenn jemand erzählt, dass ein jeder Mensch ersetzbar sei.

Wie viele meiner Freunde
- von denen keiner annimmt, dass die Erde eine Scheibe ist-
gehen so wenig behutsam miteinander um, dass sie diese Lüge zu glauben scheinen.

Und nicht wenige waren dabei auf diesem Friedhof,
Sonne oben und unten....
1994
Endlich wissen, was es heißt: Da wächst Gras drüber.
Ein Jahr lang musst du warten,
sagte die Fee, bis zu dieser Sommernacht,
dann aber wird keiner mehr die Wunde sehen.
Als ob es nie einen Schmerz gegeben hätte,
auch der Würfel ist dann wieder da:
trau dich und du würfelst die Sechs,
einmal zweimal, dreimal,
auch gewinnen will gelernt sein,
es wird alles so sein,
wie du es dir erträumt,
keine andere Möglichkeit.
Aber ob du dir das gewünscht hast....

1995

Wenn ich dich jetzt neben mir wüsste


wäre ein Fremder neben mir,
der mir vielleicht mit seinen dummen Fragen auf den Geist ginge
und der mich stören und nerven würde mit seinen Händen.

So aber,
da Du fern bist,
sitzt Du in Gedanken bei mir,
die Beine lässig auf dem Tisch, ausruhend,
lächelnd, und ein Augenaufschlag,
der unbezahlbar ist...

Wenn ich dich jetzt neben mir wüsste

wäre ein Fremder neben mir,
der mir vielleicht mit seinen dummen Fragen auf den Geist ginge
und der mich stören und nerven würde mit seinen Händen.

So aber,
da Du fern bist,
sitzt Du in Gedanken bei mir,
die Beine lässig auf dem Tisch, ausruhend,
lächelnd, und ein Augenaufschlag,
der unbezahlbar ist...