Montag, 14. April 2008

Ansichtssache

Ansichtssache
Normalerweise nehme ich nach Feierabend so ab 19 Uhr in Ruhe mein Abendbrot und einen durch Werbebeiträge unterbrochenen Serienkrimi zu mir. Gewöhnlich besucht mich kein Mensch um diese Zeit. Außer Maria, mit der mich eine flüchtige Affäre verbindet. Gestern Abend also war Maria wieder da und ich bin mir nicht einmal im klaren, aus welchem Grund ich ihr ein solches Sonderrecht zum Auskotzen einräume. Seit Tagen, so schilderte sie mir, befalle sie eine merkwürdige Traurigkeit. Sie blickte mir verständnissuchend in die Augen: "Als ob unausweichlich ein schwerer Mantel die Schultern bedeckt, ohne dass er sichtbar oder gar abzunehmen ist." Tatsächlich hatte sie noch immer ihren Wintermantel aus dem letzten Jahrhundert an, was bei den Temperaturen leicht die Grenzen des Wahnsinns tangierte... Ich riet ihr, zumindest den wirklichen Mantel erst einmal auszuziehen. Die Vorstellung, dass massives Schuhwerk mit meterdicken Sohlen auch als Schutz für die Seele "Sinn macht", war sowieso eine der irrigsten Abstrusitäten der jungen Frauen... "Heute ist mir wieder einmal aufgefallen, wie schlimm alles ist: du kannst an einer beliebigen Stelle in die Bahn steigen und eine oder mehrere Haltestellen fahren, das spielt keine Rolle, denn schon an der nächsten Station wirst du wildfremde Menschen treffen, gleich so, als ob es eine wildfremde Stadt wäre, fast scheint es überraschend, dass sie dieselbe Sprache sprechen."
Ich kaute an meinem Brötchen und bemerkte, dass ich zur Zeit immer Fahrrad fahre. "Aber Julius, Du kannst neben einem Menschen im Supermarkt stehen, man tauscht sich aus über den günstigen Kauf beim Trödelmarkt, erkundigt sich nach der Herkunft der Lederjacke und sieht sich nie wieder. Du wirst es nicht glauben, aber ich begegne manchen Leuten regelmäßig! Jeden Morgen fahren sie zur selben Zeit in der selben U-Bahn, ich kenn ihre Gebärden, ihr Lächeln, ihre Ermüdung, könnte Dir sagen, wann sie sich neue Schuhe kauften - doch hab ich nie im Leben mit ihnen gesprochen. Genauso möglich ist es, dass Du im Stau stehst, Dein Blick fällt auf jemand am Steuer nebenan und du würdest sonst was geben, um ihn wiederzusehen. Ist Dir das noch nie passiert?"
Ich nahm mir das nächste Brötchen und skizzierte ihr kurz, mit welch beispielloser Verachtung vierrädrige Mitbürger mir Platz auf der Straße einräumten, das war der reine Überlebenskampf. Und selbst unter gleichermaßen Ausgerüsteten konnte ich mir keinen noch so schmalen Dialog vorstellen, denn Welten trennen den Biker vom schnöden "Kaufhausradler", die anheimelnde Gleichheit der Undergroundfahrer gab es hier nicht, der Mensch ist allein, wenn er stirbt sowieso und vorher erst recht.
Maria blickte mich nebst Brötchen voller Verachtung an. "Aber es ist doch entsetzlich, Du wohnst in einem Hochhaus und womöglich triffst Du deinen Nachbarn ein oder zweimal im Jahr!"
Ich nahm mir eine Flasche Bier aus einem der fünf Kästen, die nun seit meinem Geburtstag ab und zu erleichtert wurden, und sah vor mich hin. "Dank seiner Außentoilette sehe ich unseren Nachbarn mindestens einmal die Woche, er ist fett, meist in Unterwäsche und wenn er besoffen ist, von einem schrecklichen Gefühl nach Nähe befallen. Dann gilt es die Tür fest zu schließen. Ansonsten solltest Du einfach eine Annonce in der zitty oder im Berliner Abendblatt aufgeben, je nach Stimmung und Zielgruppe, - suche den blonden Mann mit Zopf, der mich neulich im "Franz" so eng umschlungen hat, muss Dich wiedersehen, habe dein Portemonnaie.....- entscheidend ist, dass es nicht andersrum passiert!"
Maria's Blick schien leicht verbittert, aber das waren halt die Tatsachen und es hatte keinen Sinn rumzuheulen, sondern es galt, praktisch die Möglichkeiten zu benennen: "Das ist die Großstadtvariante, ansonsten gibt es noch die Chance, dich preisgünstig in eine der pilzartig aus der Geldnot der Beitrittsmenschen sprießenden Landkommunen einzukaufen, mit wenig Geld sind sie dabei, Schwein und Huhn inklusive, natürlich biologisch, zur Not auch abbaubar, was immer das bedeuten mag, dort sind dann nur wenige Menschen und du bist mit einer Liaison mit dem ortsansässigen Förster das Problem ein für allemal los. Er wird deinen südlichen Slang ebenso schätzen wie deinen extravaganten Kleidungsstil und über kurz oder lang werden die anfangs losen Dielen der Fußbodenheizung weichen und die Beziehungen lose befestigt werden. Zumindest für die kommenden fünf bis zehn Jahre Bautätigkeit bist Du den Schlamassel los. Eine Herde sehnsüchtiger Stadtflüchter ost und west wird Dich regelmäßig bewundern und Deine Selbstfindungskurse lassen sich gekoppelt an einen Workshop zu Brunnenbau gewiss prima verkaufen."
Wutentbrannt rannte Maria zum Fenster: "Du hörst mir einfach nicht zu. Du verstehst überhaupt nicht, was ich erzähle. Du meditierst vor Dich hin über die Welt und deine zynischen Statements hältst Du noch für die Realität. Ich rede von Einsamkeit und meine, dass mir niemand zuhört. Aber das ist ja nicht nur bei Dir so. Wen man auch trifft, jeder denkt laut vor und für sich hin, du brauchst mich gar nicht, das redest du mir nur ein. Warum bist du dann mit mir zusammen?"
Ich merkte, dass es grundsätzlich wurde und antwortete sanft: "Weil ich Dich mag."
(Warum musste sie um Gottes Willen nur immer so grundsätzlich werden, wenn ihr offenbar nur irgendwer den letzten Häkelpullover bei Esprit weggeschnappt hatte.)

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