Montag, 14. April 2008

Ganz normal

Ich hatte das Gefühl, dass irgendetwas wahnsinnig falsch lief, allerdings wusste ich nicht, was es war. Es war nach Mitternacht, mein Nachbar verlief sich auf den Dielen seiner Wohnung, die Weinflasche war dreiviertel leer und ich schrieb den dritten Tag an feingesponnenen Briefen für ein republikweites Unternehmen. Mit seidener Wortwahl und unter Zuhilfenahme vorgefertigter Textblöcke, machte ich einer Reihe von Mitarbeitern klar, dass sie in Zukunft weniger Geld vorfinden, mehr arbeiten und dennoch glücklicher leben würden. Ihr Leben würde allein schon dadurch sich abheben von dem der anderen, dass sie in einem Unternehmen verbleiben würden. Deshalb gäbe es - hier holte ich fröstelnd meinen grünen Pullover - folgende Optionen. An der Stelle folgte ein durchkonstruiertes Organigramm, was klugerweise nichts besagte und dennoch den Eindruck vermittelte, irgendwo werde entschieden.
Bei all den Rastern war mir manchmal, als ob die Buchstaben sich auflösen und zu galaktischen Weltumseglern würden. So segelnd hatte ich mich das letzte Mal gefühlt im Bett mit einem, der längst aus meinem Leben gewichen war. Meine Erinnerung an Sex war irgendwo abgeblieben wie meine Elektrogitarre und die Strickmaschine meiner Mutter. Nach dem dritten Umzug hatte ich mich eher aus rationellen, denn ästhetischen Erwägungen zur neuen aristokratischen Übersichtlichkeit bekannt.
Ich hatte allen Kram einem Händler vermacht und lebte nunmehr in den Koordinaten Bett und Kiste. Ich habe einige Mailfreunde, die ihrerseits in New York, den Hackeschen Höfen und Cottbus vor der Kiste sitzen und an für sie ähnlich hirnverbrannten Dingen schaffen. Claudia konfiguriert ein System für den Ecommerce von Brillen. Lassy, hat ein lesbisches Magazin zu layouten, ich war mir indes sicher, dass sie ein Mann war oder zumindest einer sein wollte.
Ich hatte manchmal wiederum auch das Empfinden, dass es alles so gut und richtig war, dass ich ganz normal wie alle lebte. Mein Vermieter grüßte mich freundlich. Zu jedem Date mit meinem Auftraggeber wickelte ich mich in das dunkelgraue Kostüm einer deutsche Designerin und firmierte unter »aussagekräftig nichtssagend«. Von einer Freundin hatte ich den Trick, solche Termine auf die zweite Tageshälfte zu legen. Ich war an dem Punkt, wo ich vielleicht doch ein Internetangebot für Brillen wahrnehmen sollte. veröffentlicht im Freitag, 3.März 200
http://www.freitag.de/2000/10/00102003.htm

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