Montag, 7. April 2008

Zwischenrettung

Er fragte, ob ich ihm etwas Geld leihen könne. Sonst etwas angeekelt von jener Art ständiger U-Bahn-Anmache schien irgend etwas mich zu zwingen anzuhalten und in die Tasche zu schauen. Ich gab ihm in einem mir neuen Anflug von Großzügigkeit ein 5 Mark-Stück. Gerade war ich aus einer dieser tristen Boutiquen angesichts der kindischen Pullover dort geflohen. So fand ich, nun in gewisser Weise ja eine größere Geldausgabe vermieden zu haben. Dies verschafft das absurde Gefühl, etwas eingespart zu haben, infolgedessen war ich großzügig . Ich dachte auch nicht daran, daß ich eigentlich noch in ein Schuhgeschäft wollte.
Ich gab ihm die fünf Mark und wollte weitergehen.
Er schlug vor, daß wir doch jetzt zusammen einen Kaffee trinken sollten. Er würde mich einladen. Ich war so sprachlos, daß ich solche Milchkaffeerechnungen wie: zwei mal drei Mark sind sechs gar nicht in Erwägung zog. Nach wenigen Minuten hatten wir ein kleines, eher schäbiges Cafe gefunden, dessen frisch getünchte Wände von der Kärglichkeit des Mobiliars nicht abzulenken vermochten. Wir setzten uns an einen Tisch nahe dem Fenster und ich hatte nun keine Möglichkeit mehr, dem Blick auf mein Gegenüber auszuweichen. Mein starkes Interesse für Menschen, das ich auch nie verbarg, stand im Gegensatz zu einer gewissen Furcht, dem anderen in die Augen zu schauen, und ich hatte noch nicht herausgefunden, ob ich mehr mich oder meine jeweiligen Gesprächspartner schützen wollte.
Der dunkle Marmortisch war leer, weder Milchkännchen noch eine Karte boten den Händen Halt und ich überlegte, mit welcher Bestellung ich ihn provozieren müßte. Was bringt ihn überhaupt dazu, jemand einzuladen. Nachdem ich lange genug das Tischmuster analysiert hatte, wanderte mein Blick langsam nach oben zu jenem Gesicht, das NATÜRLICH nicht ohne Faszination war warum sonst wäre ich mitgekommen! Er trug ein kariertes Hemd und darüber einen braunen Pullover.
Die sandfarbenen schulterlangen Haare waren hinten zusammengebunden. Einen solchen Zopf, diese Insignie männlicher Extravaganz, sah ich bei einem Penner zum ersten Mal. Seine Lippen waren schmal und endeten in in jenen heruntergezogenen Falten, die der Zyniker nach Jahren nicht mehr loswird. Zwischen den Augenbrauen hatte sich eine tiefe Furche eingraben. Als ich in seine wasserblauen Augen sah, blieb mir die lässige Frage, wie oft er den Trick so abziehe, im Halse stecken. Ich hatte plötzlich das Gefühl, er wisse vielleicht mehr über mich als möglich war und ich mir je eingestehen könnte.
"Ja, das gehe ihm genauso." bestätigte er gerade irgendeinen Satz, den ich ganz offenbar von mir gegeben haben musste. Ich konnte mich an nichts erinnern und Nachfragen war schlecht möglich. Er trinke den Kaffe AUCH ohne Zucker! Ich hatte NICHTS dergleichen gesagt und griff in Absurderweise mit einer lächerlichen Geste nach dem Deckel der Zuckerdose - natürlich nahm ich nie Zucker in den Kaffee. Ich begann, meine ganz offensichtliche Zerstreutheit der Tatsache zuzuschreiben, dass ich mich nun seit Wochen mit so vielen offenen Entscheidungen herumquälte. Mein Körper reagierte mit einer gewissen Schwermut und mit Rückenschmerzen. Ich stand dem machtlos gegenüber. Ich hatte wirklich genug um die Ohren und einfach nicht die geringste Kraft, mich noch mit den Sorgen und Problemen dieses Penners rumzudrücken. Offenbar hatte er vor, mich auch noch als Zuhörer seiner Schreibereien zu nutzen, denn er holte aus dem neben ihm liegenden Wollmantel, den ich vorhin gar nicht wahrgenommen hatte, ein kleines Büchlein mit handschriftlichen Eintragungen hervor. Ich lehnte mich automatisch zurück auf meinem Stuhl. Natürlich würde ich zur Not auch zuhören. Das hätte ich mir denken können, dass er einfach mal jemand zum Quatschen brauchte! Nie im Traum wäre ich auf den Gedanken gekommen, ihn nach sich zu fragen, aber zur Not konnte ich den Schuhkauf wirklich noch um einen Tag hinausschieben. Ich wusste sowieso noch nicht, welche Schuhe ich gerne wollte.
Er schlug das Büchlein auf, schien sich an irgendetwas zu erinnern und schaute mich an: "Also, gehen wir sie der Reihe nach durch!" . Ich versuchte, ihn noch ein wenig lässiger aber ermunternd anzusehen und lehnte mich in meinem Stuhl weit zurück.
"1. Du weißt nicht, wer Du wirklich bist und was Du hier sollst auf dieser Welt. 2. Du kannst Dich nicht zwischen den drei Männern entscheiden, die Dich lieben. 3. Deine Rückenschmerzen... also das geht bei mir bis Punkt 24. welche Schuhe Du kaufen sollst. Ist das richtig?" Trotz einer gewissen Erstarrung, die mich fürchten ließ, mein Herz sei stehen geblieben, hatte ich die Kraft, mir die Spitze meines linken Schuhes unter dem Tisch derb in die rechte Wade zu pieken. Es schmerzte viehisch und ich verwarf den Gedanken, dass es sich unzweifelhaft nur um einen morgendlichen Traum handeln könne.
Da er mein fassungsloses Antlitz sah, wurde er stutzig: "Du bist ärgerlich, weil ich erst so spät komme?" Ich warf einen flüchtigen Blick auf die restlichen Menschen an den Tischen um uns, die alle mehr oder minder lethargisch ihre Wünsche in sich hineinschütteten. Keiner schien etwas zu bemerken. Mir wurde übel.
Als ich von der Toilette wiederkam, deren bauliche Gestaltung jeden Gedanken an Flucht vernichtete, saß er an derselben Stelle und blickte mich traurig und mitfühlend an. "Ich verstehe ja, daß Du ärgerlich bist. Aber wenn ich nicht völlig falsch informiert bin, dann hast Du ERST gestern Nacht um 23.45 DEN HERRN um Beistand gebeten. Es gibt da gewisse Dringlichkeitsstufen und Du bist NICHT in der ersten. Es gibt dort Leute, die sofort zum Strick greifen. Außerdem werden es immer mehr Fälle und die Zahl derer, die sich niemand mehr vorstellen können, von denen sie Hilfe erwarten können, ist auch immer größer geworden. Du schreibst! Solche Fälle sind nicht sehr dringlich. Meistens drohen solche Leute nur ein bisschen, aber haben dann bis ins Irrenhaus noch zu schreiben Und Du hast mit einer Flasche Wodka in der Hand gerufen, 'wenn mir nicht bald jemand hilft' Bald, hast Du gesagt. Ich hatte die Nacht noch einen schweren Fall auf dem Dach eines Hochhauses und konnte nicht weg. Wir sind doch noch im Limit und DA BIN ICH. Ich bin für Dich verantwortlich. Wir haben uns zwar schon oft gesehen, aber Schutzengel dürfen sich nur im äußersten Notfall zu erkennen geben." Während seiner Rede war mein Mund offen geblieben, was immer nicht sonderlich vorteilhaft geistvoll auf den Gegenüber wirkt. Ganz offensichtlich hatte die Möglichkeit, gewissermaßen MEINEN Engel zu treffen, ganz außerhalb meiner Vorstellungskraft gelegen. Unter solchen Umständen war es ganz unmöglich, weiter anderen Menschen gegenüber den Eindruck erwecken, dass ich Phantasie hätte, gar schreibe. Er hatte ja Recht, eigentlich hätte mir in der Situation letzte Nacht das Schreiben Halt sein müssen!Wir plauderten noch ungefähr zwei Stunden miteinander und besprachen dieses und jenes Problem. In vielen Punkten waren wir ganz ähnlicher Auffassung. Nach einem erfrischenden Glas Sekt bezahlte er für uns beide und wir verabredeten uns für den nächsten Tag 10 Uhr vor dem Schuhsalon. Dann gingen wir jeder an unsere Arbeit.

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