Montag, 14. April 2008

Abwärts

Wenn sie die Augen schloß, rollte der Film jenes Abends in kurzen Sequenzen ab, immer wieder, nichts konnte die Erinnerung verdrängen. Sie saß in dem blauen Cafe und hatte den Platz am Fenster. Aus den Boxen grölte Tom und die blonden Girls an der Theke waren selbstbewußt wie immer, so, wie sie es nie sein würde.
Das letzte Glas Bier war schon zuviel gewesen, aber ganz ohne hielt sie keinen Abend mehr aus. Früher hatte ihr der Job nichts ausgemacht und jetzt mußte sie noch dankbar sein. Mit netten Worten für alle war sie durch die Gänge ihrer Abteilung geschritten. Das Leid der anderen, die in ihren weißen Särgen nur darauf warteten, daß der Tod sie wirklich ereile, konnte ihr nichts antun. Sie war jung, stark und gehörte zu einer anderen Welt. Seit einiger Zeit aber fragte sie sich manchmal, ob die Krankheit vielleicht ohne daß sie es merkte nicht auch an ihr längst fraß. Vielleicht war es gar keine richtige Krankheit, kein Virus, was wußten denn die Ärzte: in ihren fünf Minuten Visite werfen sie einen Blick auf die Krankenkarte, die schauten den Leuten nicht mal in die Augen, oder auf den Schreibtisch, was die so lesen.
Als ob es nicht wichtig wäre, was einer so liest, der diese beschissene Krankheit hat, der weiß, daß er nur noch eine Weile auf der Welt ist. Von denen war doch jeder eigentlich schon draußen, oder besser: drinnen, hier drinnen, bei ihr...
Sie hätte gehen müssen an dem Punkt, das wußte sie, aber wie so oft, half ihr dieses Wissen nichts. Was sie wohl für einen Eindruck machte, ein Glück, daß sie sich nicht selbst sehen konnte.
Und dann war er durch die Tür gekommen, die sie gewohnheitshalber im Blick hatte. Es schien ihr, als hätte sie ihn bereits irgendwo gesehen, in einem Film oder in einem ihrer Träume vielleicht.
Er ging zur Bar und fragte nach dem Telefon. Während er die Ziffern wählte und den Blick durch den Raum schweifen ließ, trafen seine Augen für eine Sekunde die ihren.
Dann sprach er irgendetwas auf den Anrufbeantworter und legte den Hörer auf. Im Gehen nickte er ihr unmerklich zu, vielleicht hatte sie es sich aber auch nur eingebildet.
Sie war an jenem Abends benebelt und gleichzeitig beschwingt nach Hause gegangen und verbrachte die darauffolgenden Tage mit dem festen Wunsch, ihm wiederzubegegenen. Wenn sie nunmehr das Cafe besuchte, kleidete sie sich sorgfältig.
Ihre Sehnsucht war groß und doch angenehm, sie machte sie stark und gab ihr ein wenig von der verlorenen Kraft wieder.
Dann sah sie eines Tages in dem miesesten aller Stadtblätter auf der dritten Seite sein Bild, ein kleines Paßfoto. Daneben stand: "In den gestrigen Morgenstunden wurde Philipp H. nach geglücktem Selbstmord am Fuße des Hochhauses Sonnenallee 2 aufgefunden."
Sie mußte sich erbrechen und konnte auch später das Wort Glück nicht mehr hören, ohne daß sie irgendetwas in ihrer jeweiligen Nähe zerschlug.

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